KAPITEL EINS
Noch nie hatte eine Hochzeit Tamera so unglücklich gemacht. Ihr Flug um sieben Uhr morgens von Texas zurück nach LA konnte gar nicht früh genug kommen.
Ihr Blick schweifte durch den überfüllten Ballsaal. Der gesamte Empfang war direkt ihrem virtuellen Hochzeits-Visionboard entsprungen. Die 1,20 Meter hohen Tischdekorationen aus weißen Orchideen mit Zweigen aus juwelenbesetzten Kristallen waren fast identisch mit denen, die sie vor zwei Jahren online bewundert hatte. Die erhöhte Tanzfläche schimmerte im Scheinwerferlicht mit aufgemaltem Glitzer, genau wie sie es sich immer vorgestellt hatte. An der Eisbecherbar hingen sogar Tafelschilder. Katie hatte Tameras Ideen geklaut und sie dann noch ekliger gemacht, indem sie Lavendel als ihre Haupthochzeitsfarbe gewählt hatte.
Sie hätte nie geglaubt, dass Katie die Rivalität zwischen den Geschwistern so weit treiben würde.
Eine schwere Hand legte sich auf Tameras Rücken, und sie blickte zu ihrem Date auf. Drews dunkelblondes Haar hing ihm in einem lockeren Pferdeschwanz bis zur Hälfte über den breiten Rücken, und in seiner massiven Hand hielt er ein Glas Champagner.
„Danke“, sagte Tamera und nahm das Getränk an.
"Kein Problem."
Drew sank in den Stuhl neben ihr und wirkte in Anzug und Krawatte statt seines üblichen Fußballtrikots und Jeans fehl am Platz. Er hatte nicht zur Hochzeit kommen wollen, aber Tameras Bitten überzeugte ihn schließlich. Nachdem sie fast zwölf Wochen lang ständig zusammen gewesen waren, kannte sie Drews Schwächen und wusste, wie sie diese ausnutzen konnte.
„Wie lange dauert es noch, bis wir hier rauskommen?“, fragte Drew.
Tamera nahm einen großen Schluck von dem gekühlten Alkohol und versuchte, ihre Wut zu beruhigen, die sie bei jedem gestohlenen Detail rot werden ließ. Die lavendelfarbene Seide ihres Brautjungfernkleides brannte wie heißes Öl. Dies war die kitschigere, geschmacklosere Version des Tages, den sie sich immer vorgestellt hatte. Bis hin zum Bräutigam.
Zumindest Fotos von ihr und Drew bei der Hochzeit würden in den sozialen Medien großartig aussehen. Ihre Follower würden sie verschlingen.
„Du hast versprochen, bis zum bitteren Ende zu bleiben. Du bist heute Abend mein Schmuckstück, damit ich nicht so armselig aussehe.“ Tamera wusste, dass die Fotos von heute Abend in den sozialen Medien viral gehen würden, ob sie wollte oder nicht.
Drew zuckte mit den Augenbrauen. „Sag einfach Bescheid, dann können wir die Vereinbarung etwas dauerhafter machen.“
Tamera verdrehte die Augen und kippte den Rest ihres Champagners hinunter. Sie und Drew hatten sich im Sommer bei Eye in the Sky kennengelernt, einer Reality-TV-Show, in der zwanzig Kandidaten in einem mit Kameras bestückten Glashaus um eine Million Dollar wetteiferten. Der Sender hatte eine Show-Romanze zwischen ihr und Drew arrangiert, aber es war nie mehr als harmlose Flirts von seiner Seite und zurückhaltende Schmeicheleien von ihrer Seite gewesen. Der Schmerz von Calebs Verrat war noch zu frisch, als dass Tamera überhaupt an eine Beziehung denken konnte. Dennoch hatten sie und Drew sich im Spiel verbündet und waren enge Freunde geworden, als sie beide gegen Ende der Staffel rausgewählt wurden.
„Nur Freunde“, erinnerte Tamera Drew. Sie war sich ziemlich sicher, dass er nur an ihr interessiert war, weil sie sowieso Nein gesagt hatte. Der Quarterback der San Antonio Vigilantes konnte jedes Mädchen haben, das er wollte, selbst wenn ihn eine Verletzung für den Großteil der kommenden Saison auf die Bank zwingen würde.
Sein Arm legte sich schwer um ihre Schultern. „Wie wäre es mit Freundschaft Plus?“
Sie lachte und stieß seinen Arm weg. „In deinen Träumen.“
„Du weißt wirklich, wie man einem Kerl das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein.“
Die Worte trafen sie tief, und sie schaute weg, damit er nicht sah, wie weh sie ihr tat. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, Caleb eine gute Freundin zu sein. Sicher, sie hatten ihre Probleme gehabt, aber sie hatte wirklich geglaubt, sie wären glücklich. Wie konnte er ein ganzes Jahr lang eine Affäre – ausgerechnet mit ihrer Schwester – haben, ohne dass sie davon wusste? Sie hätte genauso gut mit #ahnungslos auf der Stirn herumlaufen können. Ihre Follower hatten das in zahlreichen Kommentaren auf ihrer Seite zum Ausdruck gebracht.
Der DJ verkündete, dass Braut und Bräutigam nun ihren ersten Tanz bestreiten würden. Anspannung breitete sich in Tameras Nacken und Schultern aus. Ein übertrieben romantischer Popsong knisterte aus den Lautsprechern und dröhnte dann mit fast ohrenbetäubender Lautstärke durch den Raum.
Auf gar keinen Fall. Katie hatte dieses Lied ausgesucht? Und Caleb hatte sie gelassen? Tameras Gedanken schweiften zurück zu einer Zeit, als sie und Caleb in einem Nachtclub dazu getanzt hatten, und sie hatte scherzhaft gemeint, es wäre ein toller Eröffnungstanz. Hatte Caleb Katie von diesem Gespräch erzählt? Hatte sie deshalb das Lied gewählt?
Die Verrätereien hörten einfach nicht auf. Es bräuchte ein Wunder, heute Abend zu entkommen, ohne zu explodieren. Oder zu weinen. Das wäre vielleicht sogar noch schlimmer. Die Hashtags schrieben sich praktisch von selbst.
Eine Akustikgitarre dröhnte aus den Lautsprechern, während Katie und Caleb sich aneinander klammerten, seine Hand unangenehm tief auf ihrer Taille. Das Paar drehte sich langsam im Kreis, und Katies Blick fing auf. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen, als sie Caleb näher an sich zog und ihm einen sinnlichen Kuss unters Ohrläppchen gab.
War das eine weitere Racheaktion für Tamera, weil sie mit Katies Highschool-Schwarm zum Abschlussball gegangen war? Sie hatte erst nach dem Ball gewusst, dass Katie ihn mochte. Die Schwestern waren schon immer sehr konkurrenzbetont gewesen, aber nach diesem einen Ereignis war es brenzlig geworden.
Nun, Tamera war fertig. Ihre Finger schlossen sich um das Sektglas. „Du hast gewonnen, kleine Schwester. Genieße deine Beute.“ Nicht, dass Caleb ein besonders guter Fang gewesen wäre.
„Hey.“ Drew schnippte mit den Fingern, und Tamera riss ihren Blick von der Tanzfläche los. „Hör auf, dich so zu quälen. Du bist über ihn hinweg, weißt du noch?“
„Völlig über ihn hinweg.“ Das hatte sie zumindest immer wieder allen erzählt. Tamera holte tief und zitternd Luft. Dank ihrer Unfähigkeit, sich in Interviews im Tagebuchraum zusammenzureißen, wusste so ziemlich ganz Amerika über den Verrat von Katie und Caleb Bescheid. Der Sender hatte ihre Geständnisse aufgegriffen und sie zu einem Handlungspunkt der gesamten Staffel gemacht. Wie auch nicht, schließlich hatte die Verlobung Tamera auf Umwegen einen Platz in der Serie verschafft?
„Gut“, sagte Drew. „Jetzt lächle für die Kameras. Man weiß nie, was am Ende online gepostet wird.“
Er hatte Recht. Als Profisportler war Drew an die ständige Aufmerksamkeit gewöhnt. Tamera musste sich noch daran gewöhnen.
Es war nach Mitternacht, als der DJ den Brautstraußwurf ankündigte. Drew ergriff Tameras Hand und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. „Du musst da nicht rübergehen.“
Tamera warf ihrer Mutter einen Blick zu, die mit dauerhaft in die Stirn eingravierten Stressfalten am Rand der Tanzfläche stand.
„Wenn ich es nicht tue, wird alles nur noch schlimmer.“ Ihre Mutter würde wahrscheinlich darüber weinen, wie ihre einzigen Kinder ständig im Streit lagen. Die Hochzeitsgäste würden sich unterhalten. Jemand würde vielleicht einen bissigen Kommentar twittern, der viral gehen würde. Pass auf. Sie hatte es satt, ein Internet-Meme zu sein.
Drew nickte und ließ ihre Hand los. „Dann Kopf hoch, Soldat.“
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke.“
Tamera ging steif zur Tanzfläche und hielt sich hinten in der Gruppe angeheiterter Frauen auf. Caleb half Katie auf ein erhöhtes Podest, seine Hand verweilte an ihrer Taille. Galle brannte in Tameras Kehle, doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Katies weißes Seidenkleid schmiegte sich an ihre schlanke Figur und war vorne fast so tief ausgeschnitten wie hinten. Ihr dunkelbraunes Haar hatte dieselbe Farbe wie Tameras, ihre zierliche Statur und die hohen Wangenknochen waren nahezu identisch. Sie fing Tameras Blick auf und schenkte ihr ein strahlendes kirschrotes Lächeln – eines, das für den ganzen Raum bestimmt war. Doch ihre Augen funkelten herausfordernd.
„Bereit?“, fragte Katie.
Sie würde es nicht wagen. Tamera hielt die Arme an der Seite, und das falsche Lächeln, das sie seit dem frühen Morgen zur Schau trug, schmerzte ihre Wangen.
Katie drehte sich um und zählte. „Eins… Zwei… Drei!“
Der Strauß flog durch die Luft, und die Lavendelblüten fielen direkt auf Tameras Kopf. Ungläubigkeit kämpfte mit Wut, als sie instinktiv nach dem Strauß griff und ihn mit einer Hand auffing.
Jubel brach unter den Hochzeitsgästen aus. Eine der Brautjungfern umklammerte kichernd Tameras Arm.
„Du hast es gefangen!“, rief sie.
Tamera starrte fassungslos auf den Blumenstrauß. Von der Bühne hörte sie einen Schrei – Katie.
Was. Ein. Troll. Tamera stellte sich vor, wie sie Katie festhielt und sie zwang, die blöden Blumen zu essen, während die Hochzeitsgäste jubelten.
Ein Blitz riss Tamera in die Realität zurück, und sie blinzelte. Der Fotograf zog sie zu Katie, während Caleb daneben stand. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und schenkte Tamera ihr beliebtes schiefes Grinsen, während sein Blick über ihre Figur schweifte. So eklig.
Warum schmerzte ihr Herz noch immer, wenn sie ihn sah?
„Lasst uns ein Foto von euch beiden mit dem Blumenstrauß machen“, sagte der Fotograf und bedeutete den Schwestern, sich nebeneinander zu stellen.
Katie legte den Arm um Tameras Taille. „Ich bin so froh, dass du es gefangen hast“, sagte sie mit süßlicher Stimme. „Niemand hat das mehr verdient.“
321 Seiten
5-6 Stunden
59.000 Wörter
